Bundesverfassungsgericht 2023
Aussagen des Bundesverfassungsgerichts zur Legasthenie
Bei der Legasthenie handelt es sich um eine Behinderung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz. (RN 34)
Die Lese- und Rechtschreibstörung ist nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie durch folgende Umstände gekennzeichnet: Es handelt sich um eine lebenslang anhaltende neurobiologische Entwicklungsstörung. Eine unzureichende Verbindung bestimmter Hirnareale führt zu einer Verlangsamung der Hirnfunktionen beim Lesen und Schreiben und zu einer Rechtschreibstörung. Die Lesegeschwindigkeit ist deutlich herabgesetzt. Wegen der verlangsamten Repräsentation einzelner Wörter im Gehirn ist auch das Textverständnis erheblich beeinträchtigt. Die Rechtschreibstörung beruht auf der unzureichenden Fähigkeit, die lautliche Repräsentation den Buchstaben zuzuordnen. (RN 38)
Für die Diagnose der Legasthenie gibt es klare Kriterien. Die Lese- und Rechtschreibleistungen müssen unterdurchschnittlich sein und die akademische und berufliche Leistungsfähigkeit beeinträchtigen. Es muss ein signifikantes Missverhältnis zwischen der Rechtschreibleistung und dem allgemeinen Intelligenzniveau der Person bestehen und ausgeschlossen werden können, dass der Rechtschreibstörung mangelnde Lerngelegenheiten, nicht korrigierte Seh- oder Hörleistungen oder andere Erkrankungen zugrunde liegen. (RN 39)
Die Symptome der neurobiologischen Funktionsstörung, nämlich eine deutliche Verlangsamung des Lesens, Schreibens und Textverständnisses und weit unterdurchschnittliche Rechtschreibfähigkeiten halten längerfristig, regelmäßig sogar lebenslang, an. Die damit verbundenen Einschränkungen einer individuellen und selbstbestimmten Lebensführung sind zudem gewichtig…insbesondere während der Schulzeit. Zwar gehören die erheblichen psychischen Erkrankungen, die bei Schülern mit einer Legasthenie weit überdurchschnittlich häufig auftreten, selbst nicht zum Krankheitsbild der Legasthenie. Sie machen aber doch deutlich, welchen Belastungen die legasthenen Schüler ausgesetzt sind, wenn ihre Defizite beim Lesen, Schreiben, dem Verständnis von Texten und der Rechtschreibung angesichts der schulischen Anforderungen zutage treten. (RN 43)
Die Defizite beim Lesen und Schreiben beruhen bei der Legasthenie nicht auf Ursachen ohne Krankheitswert wie etwa einer geringen Begabung, fehlenden Lerngelegenheiten oder unzureichenden Sprachkenntnissen, sondern auf einer medizinisch messbaren neurobiologischen Hirnfunktionsstörung und damit auf einem regelwidrigen körperlichen Zustand. Dieser Zustand kann als solcher eindeutig diagnostiziert und von anderen Ursachen für Defizite beim Lesen und Schreiben abgegrenzt werden. (RN 42)
Zwar können die Rechtschreibleistungen durch Training verbessert werden. Die Wirksamkeit liegt jedoch selbst bei Maßnahmen in speziellen Therapiezentren mit ausgebildetem Personal nur im mittleren Bereich. Bei schulischer Förderung ist die Wirksamkeit nochmals deutlich geringer. Die Folgen der Erkrankung sind für die Kinder beträchtlich. 20 bis 30% der Kinder mit einer ausgeprägten Legasthenie leiden als deren Folge an psychischen Erkrankungen wie Angststörungen, Depressionen, Aufmerksamkeitsdefiziten und Verhaltensstörungen. Die Erkrankungsrate ist damit gegenüber Kindern ohne Legasthenie um das Vier- bis Fünffache erhöht. Die psychischen Erkrankungen zeigen sich nach außen in Schulängsten, sozialem Rückzug, Interessensverlust, gedrückter Stimmung und massiven Prüfungsängsten. Während Kinder ohne Legasthenie das Gymnasium mit einem Anteil von 40 bis 75% besuchen, sind es bei Kindern mit Legasthenie trotz gleicher Begabung lediglich 12 bis 27%. Bei Kindern mit einer Legasthenie kommt es sechsmal häufiger zu einem Schulabbruch. Auch die Suizidalitätsrate ist bei legasthenen Jugendlichen deutlich höher. Diese erhebliche psychische Belastung hindert viele junge Menschen mit einer Legasthenie an einer ihrer Begabung entsprechenden Ausbildung und beruflichen Tätigkeit. (RN 40)
Die Legasthenie kann die davon Betroffenen somit in erheblichem Umfang daran hindern, sich entsprechend ihrer allgemeinen Begabung in Schule, Ausbildung und Beruf zu entfalten. Angesichts der in allen Lebensbereichen vorherrschenden Schriftlichkeit der Kommunikation muss schließlich angenommen werden, dass die Verlangsamung des Schreibens, Lesens und des Textverständnisses sowie die Defizite in der Rechtschreibung die Lebensführung auch der Personen mit einer Legasthenie auf vielfältige Weise nachhaltig beeinträchtigen, denen es gelungen ist, eine ihrer Begabung entsprechende Ausbildung oder berufliche Tätigkeit aufzunehmen beziehungsweise auszuüben. (RN 43)
Auf die Herstellung von Chancengleichheit zwischen behinderten und nichtbehinderten Schülern in der Prüfung zielen dagegen Maßnahmen ab, wie die Zulassung spezieller Arbeitsmittel, die Bereitstellung besonderer Räumlichkeiten oder die Ersetzung mündlicher Prüfungsteile durch schriftliche Ausarbeitungen und umgekehrt. (RN 97)
Hiervon zu unterscheiden ist der von den allgemeinen Prüfungsanforderungen abweichende Verzicht auf den Nachweis oder die Benotung von Leistungen wegen behinderungsbedingter Einschränkungen. Dadurch wird ein besonderer Prüfungsmaßstab geschaffen, durch den die Schüler gegenüber ihren Mitschülern bevorzugt werden…. (RN 98)
Ein Zeugnisvermerk ist aus Gründen der Transparenz gerechtfertigt und erforderlich. Ist aus dem Abschlusszeugnis nicht erkennbar, dass im Einzelfall abweichend von den allgemeinen Prüfungsanforderungen von einer Bewertung von Kompetenzen abgesehen wurde, bescheinigt das Zeugnis Leistungen, die so tatsächlich nicht erbracht wurden; es ist insoweit unwahr…Solche Fehlvorstellungen werden durch einen Vermerk im Zeugnis über die Nichtbewertung vermieden. (RN 63, 93)
Der Zeugnisvermerk stellt jedoch gegenüber Schülerinnen und Schülern mit anderen Behinderungen, deren Leistungseinschränkungen nicht im Zeugnis vermerkt wurden eine unzumutbare Benachteiligung dar. Ein Zeugnisbemerkung erfolgte damals allein bei Legasthenikern. Durch die Beschränkung der Maßnahme auf die Legasthenie wird diese Behinderung zum Alleinstellungsmerkmal für eine eingeschränkte Leistungsfähigkeit in
Schule, Ausbildung und Beruf, durch das diese Behinderung besonders herausgehoben wird und sich besonders negativ von anderen Behinderungen abhebt. Diese Diskriminierung wird noch durch die verbreitete Vorstellung verstärkt, dass die Legasthenie jedenfalls mit einer allgemein unzureichenden Schreib- und Sprachfähigkeit einhergehe (RN 48, 51, 56)
Eine Ungleichbehandlung von Legasthenikern liegt auch gegenüber den Schülern und Schülerinnen vor, bei denen einzelne Lehrkräfte in Ausübung ihres Ermessens von einer Bewertung der Rechtschreibleistungen in bestimmten Fächern abgesehen haben. Das ist eine unzumutbare Benachteiligung. (RN 117)
Die Anwendung der zurückhaltenden Gewichtung der Lese- und Rechtschreibleistungen nach Abschnitt 2.3.2 der Verwaltungsvorschrift ist leistungsabhängig und gilt nicht ausschließlich für Legastheniker. Voraussetzung in den Klassenstufen 1 bis 6 sind dauerhaft schlechte Lese- oder Rechtschreibleitungen, die unterschiedliche Ursachen haben können. Ab
Klasse 7 wird zusätzlich entweder eine medizinisch diagnostizierte Lese-Rechtschreibstörung oder weiterhin ein komplexes Feld an Ursachen für einen gestörten oder verzögerten Schriftspracherwerb verlangt. Auch in den höheren Klassen ist eine Legasthenie also nicht alleiniger Grund für die Anwendung der Maßnahmen und für den daran geknüpften Zeugnisvermerk.
Der Zeugnisvermerk legt also nur offen, dass die Lese- bzw. Rechtschreibleistungen geringer gewichtet werden und weist also nicht zwangsläufig auf eine Legasthenie hin.
In den Abschlussklassen und den Abiturstufen, ist diese Regelung gar nicht anwendbar, vielmehr ist die Rechtschreibung voll zu bewerten. Die Zeugnisnoten sind also ohne Einschränkungen vergleichbar und für die Adressaten der Abschlusszeugnisse auch keine Hinweise auf mangelnde Rechtschreibkenntnisse bzw. eine Legasthenie ersichtlich.