Aktuelles Urteil BVerfG 2023

Die wichtigsten Inhalte der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 22. 11 2023 (1 BvR 2577/15, BvR 2578/15, BVR 2579/15) zum Zeugnisvermerk bei Notenschutz in Abiturzeugnissen von Legasthenikern und die Bedeutung für Baden-Württemberg

Das Bundesverfassungsgericht hat in der Entscheidung ausführlich das Erscheinungsbild und die Beeinträchtigungen einer Legasthenie dargestellt und bezieht sich dabei ausdrücklich auf die Ausführungen der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie.  Eine fachärztlich diagnostizierte Lese- und Rechtschreibstörung stellt danach eine Behinderung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG dar. Das ist eine sehr wichtige Klarstellung, insbesondere für die Beantragung des Nachteilsausgleichs.

Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass bei Nichtbewertung der Rechtschreibleistungen von Legasthenikern im Abitur ein Zeugnisvermerk grundsätzlich zulässig ist, um offenzulegen, dass ein abweichender Leistungsmaßstab für die Notenbildung zugrunde gelegt wurde.

Im Verhältnis zu nicht im Zeugnis vermerkten Leistungseinschränkungen aufgrund anderer Behinderungen und der Nichtbewertung der Rechtschreibung aufgrund von durch einzelne Lehrkräfte gewährtem pädagogischen Ermessen stellt ein Zeugnismerk, der ausschließlich bei Legasthenikern auf den im Abitur gewährtem Notenschutz hinweist, jedoch eine unzulässige Benachteiligung dar.

Was bedeutet das für die in Baden-Württemberg geltende Verwaltungsvorschrift?

In der Verwaltungsvorschrift ist in Abschnitt 2.3.2 keine umfassende Nichtbewertung der Rechtschreibung, sondern nur eine zurückhaltende Gewichtung der Lese- und Rechtschreibleistungen in den sprachlichen Fächern und eine Nichtbewertung der Rechtschreibung in den übrigen Fächern vorgesehen.

Die Regelung ist leistungsabhängig und gilt nicht ausschließlich für Legastheniker. Voraussetzung in den Klassenstufen 1 bis 6 sind dauerhaft schlechte Lese- oder Rechtschreibleitungen, die unterschiedliche Ursachen haben können. Ab Klasse 7 wird zusätzlich entweder eine medizinisch diagnostizierte Lese-Rechtschreibstörung oder weiterhin ein komplexes Feld an Ursachen für einen gestörten oder verzögerten Schriftspracherwerb verlangt. Auch in den höheren Klassen ist eine Legasthenie also nicht alleiniger Grund für die Maßnahmen und damit für den daran geknüpften Zeugnisvermerk.

Der Zeugnisvermerk legt also nur offen, dass die Lese- bzw. Rechtschreibleistungen geringer gewichtet werden und weist also nicht zwangsläufig auf eine Legasthenie hin.

In den Abschlussklassen und den Abiturstufen, ist diese Regelung gar nicht anwendbar, vielmehr ist die Rechtschreibung voll zu bewerten. Die Zeugnisnoten sind also ohne Einschränkungen vergleichbar und für die Adressaten der Abschlusszeugnisse auch keine Hinweise auf mangelnde Rechtschreibkenntnisse bzw. eine Legasthenie ersichtlich.

Offen bleibt jedoch, wie das Verhältnis zu allein aufgrund pädagogischen Ermessens reduzierten Lese- und Rechtschreibleistungen zu bewerten ist.

Die Aussagen des Bundesverfassungsgerichts im Einzelnen:

1.  Eine fachärztlich diagnostizierte Lese- und Rechtschreibstörung stellt eine Behinderung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG dar. 

„Die Lese- und Rechtschreibstörung ist nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie durch folgende Umstände gekennzeichnet: Es handeltsich um eine lebenslang anhaltende neurobiologische Entwicklungsstörung. Eine unzureichende Verbindung bestimmter Hirnareale führt zu einer Verlangsamung der Hirnfunktionen beim Lesen und Schreiben und zu einer Rechtschreibstörung. Die Lesegeschwindigkeit ist deutlich herabgesetzt. Wegen der verlangsamten Repräsentation einzelner Wörter im Gehirn ist auch das Textverständnis erheblich beeinträchtigt. Die Rechtschreibstörung beruht auf der unzureichenden Fähigkeit, die lautliche Repräsentation den Buchstaben zuzuordnen.“ (RN 38)

„Für die Diagnose der Legasthenie gibt es klare Kriterien. Die Lese- und Rechtschreibleistungen müssen unterdurchschnittlich sein und die akademische und berufliche Leistungsfähigkeit beeinträchtigen. Es muss ein signifikantes Missverhältnis zwischen der Rechtschreibleistung und dem allgemeinen Intelligenzniveau der Person bestehen und ausgeschlossen werden können, dass der Rechtschreibstörung mangelnde Lerngelegenheiten, nicht korrigierte Seh- oder Hörleistungen oder andere Erkrankungen zugrunde liegen.“ (RN 39)

„Die Symptome der neurobiologischen Funktionsstörung, nämlich eine deutliche Verlangsamung des Lesens, Schreibens und Textverständnisses und weit unterdurchschnittliche Rechtschreibfähigkeiten halten längerfristig, regelmäßig sogar lebenslang, an. Die damit verbundenen Einschränkungen einer individuellen und selbstbestimmten Lebensführung sind zudem gewichtig…insbesondere während der Schulzeit. Zwar gehören die erheblichen psychischen Erkrankungen, die bei Schülern mit einer Legasthenie weit überdurchschnittlich häufig auftreten, selbst nicht zum Krankheitsbild der Legasthenie. Sie machen aber doch deutlich, welchen Belastungen die legasthenen Schüler ausgesetzt sind, wenn ihre Defizite beim Lesen, Schreiben, dem Verständnis von Texten und der Rechtschreibung angesichts der schulischen Anforderungen zutage treten.“ (RN 43)

„Die Defizite beim Lesen und Schreiben beruhen bei der Legasthenie nicht auf Ursachen ohne Krankheitswert wie etwa einer geringen Begabung, fehlenden Lerngelegenheiten oder unzureichenden Sprachkenntnissen, sondern auf einer medizinisch messbaren neurobiologischen Hirnfunktionsstörung und damit auf einem regelwidrigen körperlichen Zustand. Dieser Zustand kann als solcher eindeutig diagnostiziert und von anderen Ursachen für Defizite beim Lesen und Schreiben abgegrenzt werden.“ (RN 42)

„Die Wirksamkeit der therapeutischen Behandlung ist für die Lesestörung als gering einzuschätzen und liegt für die Rechtschreibstörung im mittleren Bereich. Bei der schulischen Förderung sind die Effekte noch deutlich geringer. Gleichwohl ist es wichtig, möglichst früh mit der schulischen Förderung legasthener Kinder zu beginnen. … Da die Legasthenie auf einer neurobiologischen Störung beruht, ist es von vornherein nicht möglich, die davon betroffenen Personen durch Förderung auf den gleichen Leistungsstand zu bringen wie Menschen ohne diese Störung. Zwar können die Rechtschreibleistungen durch Training verbessert werden. Die Wirksamkeit liegt jedoch selbst bei Maßnahmen in speziellen Therapiezentren mit ausgebildetem Personal nur im mittleren Bereich. Bei schulischer Förderung ist die Wirksamkeit nochmals deutlich geringer. Die Folgen der Erkrankung sind für die Kinder beträchtlich. 20 bis 30% der Kinder mit einer ausgeprägten Legasthenie leiden als deren Folge an psychischen Erkrankungen wie Angststörungen, Depressionen, Aufmerksamkeitsdefiziten und Verhaltensstörungen. Die Erkrankungsrate ist damit gegenüber Kindern ohne Legasthenie um das Vier- bis Fünffache erhöht. Die psychischen Erkrankungen zeigen sich nach außen in Schulängsten, sozialem Rückzug, Interessensverlust, gedrückter Stimmung und massiven Prüfungsängsten. Während Kinder ohne Legasthenie das Gymnasium mit einem Anteil von 40 bis 75% besuchen, sind es bei Kindern mit Legasthenie trotz gleicher Begabung lediglich 12 bis 27%. Bei Kindern mit einer Legasthenie kommt es sechsmal häufiger zu einem Schulabbruch. Auch die Suizidalitätsrate ist bei legasthenen Jugendlichen deutlich höher. Diese erhebliche psychische Belastung hindert viele junge Menschen mit einer Legasthenie an einer ihrer Begabung entsprechenden Ausbildung und beruflichen Tätigkeit.“ (RN 40)

„Eine besonders schwerwiegende Beeinträchtigung selbstbestimmter Lebensführung stellt der Umstand dar, dass Schülerinnen und Schüler mit einer Legasthenie die Schule weit häufiger abbrechen und das Gymnasium weit unterdurchschnittlich häufig besuchen, obwohl die Legasthenie die intellektuellen Fähigkeiten nicht berührt. Die Legasthenie kann die davon Betroffenen somit in erheblichem Umfang daran hindern, sich entsprechend ihrer allgemeinen Begabung in Schule, Ausbildung und Beruf zu entfalten. Angesichts der in allen Lebensbereichen vorherrschenden Schriftlichkeit der Kommunikation muss schließlich angenommen werden, dass die Verlangsamung des Schreibens, Lesens und des Textverständnisses sowie die Defizite in der Rechtschreibung die Lebensführung auch der Personen mit einer Legasthenie auf vielfältige Weise nachhaltig beeinträchtigen, denen es gelungen ist, eine ihrer Begabung entsprechende Ausbildung oder berufliche Tätigkeit aufzunehmen beziehungsweise auszuüben.“ (RN 43)

2. Legasthene Schülerinnen und Schüler werden durch den Zeugnisvermerk gegenüber Schülerinnen und Schülern, bei denen die Rechtschreibleistungen bewertet werden, zwar benachteiligt, die Benachteiligung ist jedoch gerechtfertigt.

Eine Bewertung der Rechtschreibleistungen legasthener Schüler würde deren Erfolgschancen in der Prüfung verschlechtern, weil sie infolge ihres behinderungsbedingten Rechtschreibdefizits nicht oder nur sehr eingeschränkt in der Lage sind, die erforderlichen Anforderungen zu erfüllen. (RN 67)

Zwar können durch die Bewertung der Rechtschreibleistungen auch Prüfungsteilnehmer mit einer Rechtschreibschwäche ohne Krankheitswert nachteilig betroffen sein. Die Nachteile der Legastheniker unterscheiden sich aber, weil sie infolge des behinderungsbedingt besonders ausgeprägten Rechtschreibdefizits regelmäßig schwerer wiegen. Sie sind auch ihrer Art nach verschieden, weil sie von vornherein nicht durch Übung, Fleiß und Förderung vermieden werden können…(RN 67)

Eine Zeugnisbemerkung erfolgte damals allein bei Legasthenikern. (RN 48)

Für die Adressaten des Schulabschlusszeugnisses lag somit auf der Hand, dass es sich um einen Legastheniker handelte. Diese Offenlegung eines vorhandenen Leistungsdefizits und einer Behinderung beeinträchtigt das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Die Erfolgschancen der Betroffenen bei Bewerbungen können sich dadurch verschlechtern. (RN 50)

Diese Benachteiligung gegenüber Schülerinnen und Schülern, bei denen die Rechtschreibleistungen bewertet werden, ist jedoch gerechtfertigt.

Das Abiturzeugnis dient als Nachweis der allgemeinen Hochschulreife dem nach Art. 7 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG mit Verfassungsrang versehenen Ziel, allen Schülerinnen und Schülern die gleiche Chance zu eröffnen, entsprechend ihren erbrachten schulischen Leistungen und persönlichen Fähigkeiten Zugang zu Ausbildung und Beruf zu finden. Diesem Ziel wird der Gesetzgeber in besonderem Maße gerecht, wenn alle Prüflinge dieselben schulisch erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten unter denselben Voraussetzungen nachweisen müssen und die unterschiedliche Qualität der gezeigten Leistungen durch eine differenzierte Notengebung genau erfasst wird. (RN 77)

Die Rechtschreibkompetenz ist auch zulässiger Bestandteil der Abiturprüfung. Die Aufgabe der schulischen Vermittlung von Rechtschreibregeln und deren Bewertung hat sich durch die Entwicklung selbstlernender Rechtschreibprogramme nicht überholt. Die Fähigkeit zu störungsfreier Kommunikation setzt auch die Beherrschung von Rechtschreibregeln voraus. (RN 83)

Zwar werden Schülerinnen und Schüler mit einer Legasthenie im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG durch die Festlegung der Rechtschreibung zum Prüfungsgegenstand des Abiturs mittelbar wegen dieser Behinderung benachteiligt. Diese Benachteiligung ist aber verfassungsrechtlich gerechtfertigt. (RN 65)

Ein Zeugnisvermerk ist aus Gründen der Transparenz gerechtfertigt und erforderlich. Ist aus dem Abschlusszeugnis nicht erkennbar, dass im Einzelfall abweichend von den allgemeinen Prüfungsanforderungen von einer Bewertung von Kompetenzen abgesehen wurde, bescheinigt das Zeugnis Leistungen, die so tatsächlich nicht erbracht wurden; es ist insoweit unwahr…Solche Fehlvorstellungen werden durch einen Vermerk im Zeugnis über die Nichtbewertung vermieden. (RN 63, 93)

Auf die Herstellung von Chancengleichheit zwischen behinderten und nichtbehinderten Schülern in der Prüfung zielen dagegen Maßnahmen ab, wie die Zulassung spezieller Arbeitsmittel, die Bereitstellung besonderer Räumlichkeiten oder die Ersetzung mündlicher Prüfungsteile durch schriftliche Ausarbeitungen und umgekehrt. (RN 97)

Hiervon zu unterscheiden ist der von den allgemeinen Prüfungsanforderungen abweichende Verzicht auf den Nachweis oder die Benotung von Leistungen wegen behinderungsbedingter Einschränkungen. Dadurch wird ein besonderer Prüfungsmaßstab geschaffen, durch den die Schüler gegenüber ihren Mitschülern bevorzugt werden, da sich ihr behinderungsbedingt eingeschränktes Leistungsvermögen nicht negativ im Zeugnis niederschlägt. Derartige Bevorzugungen sind nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG zwar erlaubt, aber nicht ohne weiteres geboten … Bevorzugende Maßnahmen sind jedenfalls nachrangig gegenüber Fördermaßnahmen, die Chancengleichheit zwischen Schülern mit und denen ohne Behinderung herstellen. (RN 98)

3. Die Benachteiligung gegenüber Schülerinnen und Schülern mit anderen Behin-derungen ist dagegen nicht gerechtfertigt. Auch die Benachteiligung gegenüber Ermessensbewertungen ist nicht gerechtfertigt.

Nach der zum maßgeblichen Zeitpunkt geübten Praxis der Anbringung von Zeugnisbemerkungen in Abiturzeugnissen ist eine nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG zu beurteilende Ungleichbehandlung gegenüber Schülerinnen und Schülern mit anderen Behinderungen, bei denen Rechtschreibleistungen und sonstige Prüfungsleistungen nicht bewertet wurden. Durch die Beschränkung der Maßnahme auf die Legasthenie wird diese Behinderung zum Alleinstellungsmerkmal für eine eingeschränkte Leistungsfähigkeit in Schule, Ausbildung und Beruf, durch das diese Behinderung besonders herausgehoben wird und sich besonders negativ von anderen Behinderungen abhebt. Diese Diskriminierung wird noch durch die verbreitete Vorstellung verstärkt, dass die Legasthenie jedenfalls mit einer allgemein unzureichenden Schreib- und Sprachfähigkeit einhergehe (RN 51, 56)

Eine Ungleichbehandlung von Legasthenikern liegt auch gegenüber den Schülern und Schülerinnen vor, bei denen einzelne Lehrkräfte in Ausübung ihres Ermessens von einer Bewertung der Rechtschreibleistungen in bestimmten Fächern abgesehen haben. Das ist eine unzumutbare Benachteiligung. (RN 117)

Landesverband Legasthenie und Dyskalkulie Baden-Württemberg e.V.